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Autoimmunerkrankungen: Immunsystem im Dauer-Alarm
Wo Licht ist, ist auch Schatten – diese Weisheit gilt leider auch für unser Selbstverteidigungssystem. Denn manchmal kann unser Immunsystem nicht mehr zwischen Freund und Feind unterscheiden. Greift es unsere körpereigenen Strukturen an, ist es fast nicht mehr davon abzubringen.
Jeder biologische Organismus muss sich von der ersten bis zur letzten Minute gegen zahlreiche Bedrohungen durch verschiedenste Substanzen und Lebewesen behaupten. Pflanzen, Tiere und Menschen verfügen deshalb über ein Immunsystem, das einerseits die jeweils eigene Körpersubstanz erkennen und tolerieren und andererseits fremde Strukturen wie Bakterien, Viren, Pilze oder Parasiten bekämpfen soll.
Dem menschlichen Immunsystem stehen hierfür mehrere Komponenten zur Verfügung. Es umfasst zahlreiche spezialisierte Immunzellen wie die weißen Blutkörperchen (Lymphozyten) oder natürliche Killerzellen sowie verschiedene, aus Proteinen aufgebaute Botenstoffe wie die Antikörper und die Interleukine. Unterstützt werden die Immunzellen von der Haut und von den Schleimhäuten, die eine Barriere zwischen dem Inneren und dem Außen bilden, aber auch Sekrete freisetzen und somit zur Abwehr beitragen.
Im Falle einer Autoimmunerkrankung toleriert das Immunsystem die Strukturen von einzelnen Organsystemen nicht mehr und beginnt diese – unbehandelt – nach und nach zu zerstören. Das Immunsystem richtet seine Waffen dann nicht mehr ausschließlich gegen Gefahren von außen, sondern auch gegen den Körper, den es eigentlich verteidigen will.
Man kennt inzwischen mehr als 80 Autoimmunerkrankungen. Einige Beispiele sind in der Tabelle aufgelistet. Fünf bis acht Prozent der Bevölkerung sind von einer oder von mehreren Autoimmunerkrankungen betroffen – Frauen häufiger als Männer. Während einige Autoimmunerkrankungen wie etwa der Diabetes mellitus Typ 1, Rheuma oder die Zöliakie schon in der Kindheit ausbrechen können, treten andere meist erst im Erwachsenenalter auf.
Beispiele für Autoimmunerkrankungen
Den Bewegungsapparat betreffend:
- Rheumatoide Arthritis ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung der Innenhaut der Gelenke und verschiedener Organe
Den Gastrointestinaltrakt betreffend:
- Diabetes mellitus Typ 1 ist eine Erkrankung der Inselzellen der Bauchspeicheldrüse, die mit einer verminderten Insulinausschüttung und erhöhten Blutzuckerwerten einhergeht.
- Primär sklerosierende Cholangitis ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung der Gallengänge.
- Typ A-Gastritis ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung mit Antikörperbildung gegen die Zellen der Magenschleimhaut.
- Zöliakie ist eine Darmerkrankung, ausgelöst durch Eiweiße im Getreide (Gluten).
Haut und Haare betreffend:
- Alopecia areata ist ein entzündlich bedingter, kreisrunder Haarausfall.
- Lichen sclerosus et atrophicus ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung von Haut, Schleimhaut und Bindegewebe mit verhornten Knötchen und Gewebeschwund.
- Psoriasis (Schuppenflechte) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung der Haut mit Schuppenbildung sowie Entzündungen von Gelenken und/oder von Sehnen.
- Sklerodermie ist eine Autoimmunerkrankung des Hautbindegewebes mit zunehmendem Elastizitätsverlust.
- Vitiligo (Weißfleckenkrankheit) ist eine Hauterkrankung zunehmendem Pigmentverlust.
Das Nervensystem betreffend:
- Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Nervensystems, bei der die äußere Schicht der Nervenfasern angegriffen wird.
Die Schilddrüse betreffend:
- Hashimoto-Thyreoiditis ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung der Schilddrüse mit Schilddrüsenunterfunktion.
- Morbus Basedow ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung der Schilddrüse mit einer Schilddrüsenüberfunktion.
Wo gehobelt wird, fallen Späne
Das Immunsystem ist ununterbrochen in Alarmbereitschaft. Einige Immunzellen und Botenstoffe fließen mit dem Blut durch den Körper. Andere wachen im Gewebe oder an den Körperoberflächen, um sofort in Aktion zu treten, wenn sie eine körperfremde Struktur erkennen. Dabei reagiert die erworbene Immunabwehr spezifischer und gezielter als das angeborene Immunsystem. Grund dafür sind Gedächtniszellen, die einmal identifizierte Erreger auch noch Jahre später wiedererkennen und umgehend ausschalten können.
Allerdings können die Erkennungsmerkmale dieser Erreger mitunter strukturelle Ähnlichkeiten mit dem körpereigenen Gewebe aufweisen. Dann greifen die Immunzellen das Gewebe der betroffenen Organsysteme genauso an wie Viren oder Bakterien, und zerstören die Organe sukzessive, wenn die Erkrankung nicht rechtzeitig behandelt wird. Auch lokale Herde wie eine chronische Entzündung des Zahnfleischs können sich auf andere Organe ausbreiten.
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Vielfach ist eine Veranlagung für bestimmte Autoimmunerkrankungen genetisch bedingt. Das Erkrankungsrisiko der Geschwister, Kinder und Enkelkinder von Betroffenen ist deshalb höher als das von anderen Menschen. Die genetische Disposition für eine Autoimmunerkrankung alleine führt jedoch nicht zwangsläufig zu deren Ausbruch. Meist kommen weitere Faktoren hinzu.
So leiden Betroffene vorher oftmals jahrelang unter einer stillen Entzündung (silent inflammation). Man bezeichnet sie als still, weil sie nicht mit den klassischen Symptomen einer akuten Entzündung wie Rötung, Schwellung, Erwärmung, Schmerzen und Funktionsminderung einhergeht. Diese Beschwerden signalisieren, dass das Immunsystem einen eingedrungenen Erreger bekämpft. Sobald der Erreger eliminiert wurde, klingen die akute Entzündung und die Immunreaktion wieder ab. Eine stille Entzündung kann jedoch ganz unauffällig verlaufen, langfristig bestehen und das Immunsystem nie richtig zur Ruhe kommen lassen.
Nicht wer rastet, rostet…
Unsere Lebensweise und unsere Ernährung können stille Entzündungen und den Ausbruch von Autoimmunerkrankungen triggern. So kann Stress beispielsweise langfristig zu einem Abfall des Cortisolspiegels führen. Cortisol benötigt der Körper allerdings nicht nur, um tagsüber in Schwung zu kommen, er nutzt es auch zur Kontrolle von Entzündungen. Mit sinkendem Cortisolspiegel werden demzufolge die entzündungshemmenden Kapazitäten des Körpers geschwächt.
Schlafmangel wiederum kann entzündungsfördernde Gene aktivieren. Wer stressbedingt nicht gut schlafen kann, trägt daher langfristig über unterschiedliche Mechanismen dazu bei, dass chronische Entzündungen entstehen oder fortschreiten können.
Auch Umweltgifte, Tabak- und Alkoholkonsum sowie ungünstige Ernährungsgewohnheiten können Entzündungen fördern. Bei einer Unterernährung fehlen dem Körper wichtige Mikronährstoffe für den Kampf gegen Entzündungen. Ein Übermaß an Zucker und gesättigten Fettsäuren kann dagegen die Ausschüttung von proentzündlichen Botenstoffen des Immunsystems stimulieren. Gleichzeitig können Zucker und gesättigte Fettsäuren zur vermehrten Bildung von Fettzellen beitragen, die wiederum selbst entzündungsfördernde Stoffe freisetzen und so beispielsweise Entzündungen in Gelenken, in den Gefäßen oder im Nervensystem auslösen können. Übergewicht kann daher das Risiko für chronisch-entzündliche Erkrankungen erhöhen. Zusätzlich können Zucker und gesättigte Fette zusammen mit Umweltgiften, Emulgatoren, Lösungsmitteln und Zusatzstoffen einen ungünstigen Einfluss auf die Zusammensetzung der Darmbakterien haben.
Krankheit beginnt oft im Darm
Vielfach gehen Autoimmunerkrankungen mit einer erhöhten Durchlässigkeit des Darms einher (Leaky Gut). In einem gesunden Darm wird die Barrierefunktion der Darmschleimhaut durch eine dicke Schleimschicht und ein gesundes Mikrobiom unterstützt. Um das Milieu aufrecht zu halten, nutzen die Darmbakterien zahlreiche Nahrungsbestandteile und bilden daraus Schleim, Milch- und Fettsäuren sowie Wasserstoffperoxid. Auf diese Weise halten sie krankmachende Keime fern.
Ist das gesunde Gleichgewicht der Darmbakterien gestört, siedeln sich unter Umständen Bakterien an, die selbst Entzündungsmediatoren bilden, welche irgendwo im Körper Schäden verursachen können. Außerdem kann diese sogenannte Dysbiose zu einer Schädigung der Barriere- und Abwehrfunktion des Darms führen. Werden dabei vermehrt Proteine wie Zonulin gebildet, öffnen sich die Verbindungen zwischen den Schleimhautzellen (Tight Junctions). Dann können Immunzellen unter anderem direkt mit Nahrungsbestandteilen, Bakterien und Umweltgiften im Darm in Kontakt kommen. Die dadurch ausgelösten Immunreaktionen können in Folge chronische Entzündungen begünstigen.
Mehr Lebensqualität durch Selbstfürsorge
Auch wenn Autoimmunerkrankungen unheilbar sind, müssen Betroffene den Kopf nicht in den Sand stecken. Mit ihrer Lebensweise und ihrer Ernährung können sie ergänzend zu einer effektiven medikamentösen Therapie die Schwere der Erkrankung beeinflussen und die Abstände zwischen den Krankheitsschüben verlängern. Durch eine Reduktion von Stress und ausreichend Schlaf werden im Körper entzündungshemmende Mechanismen aktiviert. Betroffene, die nicht nur Entspannungstechniken wie Yoga, Qigong, Autogenes Training oder Meditieren lernen, sondern auch darin geschult werden, ihre körperlichen Signale als Reaktionen auf Ärger oder Überforderungen im Alltag frühzeitig zu erkennen (Mind-Body-Medizin), können nachweislich der Chronifizierung von Erkrankungen entgegenwirken. Auch Kraft- und Ausdauersport haben Studien zufolge einen positiven Einfluss auf Autoimmunerkrankungen.
Eine zweite Säule der Selbstfürsorge ist die Ernährung. Eine ballaststoffreiche Ernährung mit Vollkorngetreide, Nüssen, Saaten, Obst, Hülsenfrüchten und anderem Gemüse liefert nicht nur wertvolle Nahrungsbestandteile, sie nährt auch die gesundheitsfördernden Bakterien im Darm, sättigt und hilft, eventuelles Übergewicht abzubauen. Diese Nahrungsmittel enthalten zudem wichtige antientzündlich wirkende Mikronährstoffe und Antioxidantien. Ebenso wirken mehrfach ungesättigte Fettsäuren wie die Omega-3-Fettsäuren direkt entzündungshemmend. Grüner Tee und Beeren enthalten sekundäre Pflanzenstoffe, die direkt entzündungshemmend wirken. Ein Übermaß an Alkohol, Kochsalz, Zucker und tierischen Fetten sollte man dagegen meiden, da sie Entzündungen fördern.
Ein gesunder Lebensstil und eine gesunde Ernährung können nicht nur den Verlauf von Autoimmunerkrankungen günstig beeinflussen, sie können auch das Erkrankungsrisiko senken. Übertriebene Hygiene gehört jedoch nicht dazu. Sie kann das Immunsystem vermutlich sogar schwächen und so Autoimmunerkrankungen und Allergien begünstigen.
Autorin
Sabine Ritter
Apothekerin und Heilpraktikerin