Rezepte einreichen

Rezepte einreichen

Online-Shop

Online-Shop

Vernetzt: Das Gehirn und die Pubertät

„Chill mal!“ ist heute die einzige Antwort meines Kindes auf meine Bitten, seinen häuslichen Pflichten nachzukommen. Zu guter Letzt nehme ich – nach dem letzten „Chill mal!“ – den stehen gelassenen Teller vom Abendessen und bringe ihn nicht wie gewohnt in die Küche, sondern stelle ihn kommentarlos auf dem Schreibtisch im Kinderzimmer ab. Mal schauen was passiert?!

Solche Szenen mit den jugendlichen Kindern kennen wohl viele Eltern. Konflikte im Alltag werden häufiger und man frägt sich: Was ist nur los mit meinem Kind? Als ob jemand den Schalter umgelegt hätte, ist es wie ausgewechselt und reagiert nicht mehr so kooperativ, wie ich es bisher gewohnt war.

Pubertät ist die Antwort auf die Frage! Viel verändert sich in dieser Zeit, nicht nur äußerlich. Doch was genau passiert in dieser Phase des Erwachsenwerdens? Viele der Veränderungen passieren dabei im Gehirn des Jugendlichen. Dies hat unter anderem auch Auswirkungen auf das Verhalten.

Entwicklung und Aufbau des Gehirns

Bereits in der 3. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung des Gehirns. Eine Nervenzelle bildet sich, wandert an die vorgegebene Stelle im Gehirn und vernetzt sich mit anderen Nervenzellen, um dort ihre spezielle Aufgabe der Informationsübertragung zu übernehmen. Auf diese Weise wächst das Gehirn und wird in seine verschiedenen Regionen und Funktionen eingeteilt (siehe „Abbildung: Das Gehirn“). Es erreicht ein Gewicht von 3 Pfund und besitzt ein schwammartiges Aussehen.

Nervenzelle und Reizweiterleitung

Die kleinste Einheit im Gehirn, die Nervenzelle oder Neuron genannt, besteht aus einem Zellkörper, von dem aus sich ein Axon und viele Dendriten erstrecken (siehe „Abbildung: Nervenzelle“ und „Abbildung: Reizweiterleitung“). Dendriten nehmen Informationen von vernetzten Nervenzellen auf und geben diese in Form eines elektrischen Impulses an das Axon weiter. Das Axon, das eine Länge von bis zu einem Meter erreichen kann, leitet diesen elektrischen Reiz wie ein Stromkabel auf die nächste Nervenzelle oder eine Muskel- oder Drüsenzelle weiter. Die Reizweiterleitung läuft entlang des Axon bis zur Synapse, dem Spalt zwischen Axon-Ende und der neuen Zelle. Dort löst der elektrische Impuls die Ausschüttung von chemischen Botenstoffen aus, den Neurotransmittern wie z.B. Dopamin, Serotonin, Acetylcholin.

Auf der „Empfängerzelle“ ist eine Andockstelle für den Neurotransmitter, der wie ein Schlüssel in das Schloss passt – der Rezeptor. Die dort angekommene Information kann wie oben beschrieben wieder an die nächste Nervenzelle weitergeleitet werden oder an einer Muskelzelle eine Kontraktion, an einer Drüsenzelle eine Sekretion von z.B. Hormonen, Enzymen etc. auslösen. Damit die Reizweiterleitung deutlich schneller geht, ist das Axon von der Myelin-Hülle umgeben, die ein Springen des elektrischen Signals möglich macht, und so die Information mit einer Geschwindigkeit bis zu 100 km/h weiterträgt. Diese strukturellen und funktionellen Eigenschaften von ineinander verschalteten Nervenzellen machen das Gehirn aus.

Lernen – die Vernetzung wird engmaschiger

Interessanterweise vernetzen sich diejenigen Regionen im Gehirn stärker, die häufiger genutzt werden. Beobachten kann man dies bei Lernprozessen. Lernt ein Säugling greifen, werden die dafür zuständigen Nervenzellen im Gehirn stärker vernetzt, je häufiger das Kind etwas mit seiner Hand umschließt. Dieser Prozess verläuft die ganze Kindheit über, bis das Gehirn etwa 100 Milliarden Nervenzellen gebildet und miteinander verknüpft hat.

Pubertät im Gehirn

In der Pubertät wird das Gehirn re-organisiert. Es entsteht im Gehirn tatsächlich eine Baustelle, was der etwas lapidare, aber klare Spruch des Familientherapeuten Jesper Juul „Vorsicht Pubertät! Wegen Umbau vorübergehend geschlossen!“ verdeutlicht. Ungenutzte Nervenregionen werden abgebaut, Nervenbahnen im Dauereinsatz hingegen stärker vernetzt. Viele Axone werden nun mit der Myelin-Hülle bezogen – das Denken wird schneller.

Die Entwicklung der Großhirnrinde ist noch nicht komplett abgeschlossen. Der Stirnlappen, der über die Folgen des Handelns nachdenkt, reift als letztes heran. Risikoabschätzung von Entscheidungen fällt schwer. Dagegen ist das limbische System, die Gehirnregion für Emotionen und Belohnung, deutlich weiter gereift und regiert über das frontale Kontrollsystem. Jugendlichen ist es schon möglich, rationale Entscheidungen zu treffen, jedoch setzt die Vernunft in besonders emotionalen Situationen oder bei Aussicht auf Belohnung aus (Mutprobe zur Aufnahme in die Peergroup, Gruppe der Gleichaltrigen). Der Wunsch nach sozialer Anerkennung überwiegt in dieser Lebensphase.

Rückenwind bekommt das limbische System durch den Mangel an Dopamin-Rezeptoren. Dem Dopamin, das als Neurotransmitter im Gehirn das Glücksgefühl hervorruft, fehlen die Rezeptoren, sodass Jugendliche deutlich stärkere „Kicks“ benötigen, um dieses Gefühl hervor zu rufen, was ihre Bereitschaft zu riskanten Aktionen erhöht.

Hormone im Gehirn

Zu Beginn der Pubertät wird die Reifung der sekundären Geschlechtsmerkmale über die Sexualhormone gesteuert. Auch im Gehirn formen diese das Netzwerk um und führen zu Verhaltensänderungen. Mädchen werden durch den Östrogen-Anstieg stressanfälliger, Jungen dagegen durch den Androgen-Anstieg gegenüber Stress gelassener.

„Nachteulen“

Warum Jugendliche abends nicht ins Bett gehen und morgens nicht aus den Federn kommen, erklärt sich aus der Verschiebung der Melatonin-Bildung um ca. 2 Stunden. Melatonin ist das Hormon aus der Zirbeldrüse im Gehirn und steuert den Schlaf-Wach-Rhythmus.

Die abendliche Nutzung der digitalen Medien und deren emotionale Verarbeitung beim Einschlafen im Bett lässt die Jugendlichen nicht so schnell zur Ruhe kommen. Statt ihre eigenen Batterien wieder aufzuladen, dreht sich manchmal alles nur um den vollen Akku auf ihrem Handy. Das führt zu weiterem Schlafmangel.

Folgen davon sind Schlafstörungen, Müdigkeit am Tag, Konzentrationsstörungen, erhöhte Stressanfälligkeit sowie erhöhte Unfallgefahr.


Studien zufolge schlafen Schüler*innen im Alter von 14 bis 16 Jahren durchschnittlich 2 Stunden weniger als empfohlen wird. Inzwischen wird auch ein Zusammenhang zwischen Schlafmangel und Alzheimer gesehen.

Da das Gehirn das komplizierteste Organ ist, das die Natur je hervorgebracht hat, sollten wir auf ausreichend Erholungsphasen unserer Heranwachsenden achten!


Bisher wurde angenommen, dass mit der Pubertät die Gehirnentwicklung und dessen Re-Organisation abgeschlossen sind. Doch die Forschung hat herausgefunden, dass auch im Erwachsenenalter immer wieder Prozesse der Neuvernetzung und des Abbaus vorhandener Nervenregionen ablaufen. So ist es uns möglich, in jedem Lebensalter neue Dinge zu erlernen. Genaugenommen befinden wir uns ein Leben lang neurologisch gesehen in der Pubertät, nur auf eine subtilere Art.

Vielleicht können wir in Anbetracht dessen die Eskapaden unserer „Pubertierchen“ schmunzelnd und gelassener betrachten und tatsächlich auch mal „chillen“!

Autorin

Bettina Wadewitz

Apothekerin