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Gefühle und Emotionen – Scham, Wächterin unserer Integrität
Ein Kaffeefleck auf der weißen Bluse kurz vor einem Termin; der Magen knurrt laut in einer Besprechung; zu spät zu einer wichtigen Verabredung kommen; eine Krankheit haben oder sich körperlich verändert zu haben – die Liste ist lang, denn wer kennt sie nicht, diese peinlichen Momente, die uns Scham empfinden lassen? Aber warum eigentlich schäme ich mich?
Schäm dich!
Die Beschäftigung mit dem Gefühl Scham ist ein sehr intimer Prozess. Es ist das Gefühl, dass uns wie kein anderes zu uns selbst führt. Scham bezieht sich immer auf uns als gesamte Person und ist somit das einzige Gefühl, dass sich nach innen richtet und uns die Fähigkeit gibt, unsere Grenzen, Fehler, und Schwächen zu erkennen. So wacht sie über unsere Persönlichkeit.
Das Schamgefühl kennen alle Menschen auf der Welt unabhängig von Religion, Land und Kultur. Auch wenn es überall etwas andere Auslöser hat, ist es allgegenwärtig. Denn die Fähigkeit, Scham zu empfinden, gilt als angeboren. Scham entwickelt sich schon ab der Zeit, in der das Ich-Gefühl sich ausbildet. Den neuesten Erkenntnissen zufolge bereits etwa in den ersten Lebenswochen und -monaten. Schamgefühle sind zumeist sehr schmerzhafte und unangenehme Emotionen, die sich auch für einen Erwachsenen sehr mächtig anfühlen können. In der Vergangenheit wurde bereits viel Missbräuchliches und Negatives im gesellschaftlichen, pädagogischen, politischen oder auch religiösem Kontext mit der Scham betrieben. Dieses Gefühl hat daher keinen guten Ruf und ist oft immer noch ein Tabuthema. Viele Menschen fühlen sich schuldig oder verlegen, wenn sie Scham empfinden. Dies führt dazu, dass sie ihr Gefühl der Scham verbergen oder leugnen. Aber hilfreich ist das nicht.
Scham und Selbstbild
Scham ist ein sehr komplexes und vielschichtiges Gefühl, das auftritt, wenn man sich der Tatsache bewusst wird, dass man etwas ist oder etwas getan hat, was andere als unangemessen oder als schlecht betrachten. Es kann auch ein Gefühl sein, das entsteht, wenn man denkt, dass man etwas nicht richtig gemacht hat oder nicht so gut ist, wie man sein sollte.
Doch was genau ist Scham eigentlich? Eine der zahlreichen Erklärungen lautet: Ein Gefühl der Verlegenheit oder Reue, welches durch die Erkenntnis hervorgerufen wird, etwas Unangemessenes, Peinliches oder Unehrenhaftes getan zu haben. Das macht deutlich, dass Scham vor allem mit einem negativen Selbstbild verbunden ist. Man fühlt sich schuldig und denkt, man hätte besser handeln können.
Scham kann jedoch sowohl positiv als auch negativ bewertet werden. Positive Schamgefühle können uns motivieren, besser zu werden und unsere Fehler zu korrigieren. Negative Schamgefühle können uns jedoch blockieren, isolieren und verhindern, dass wir uns weiterentwickeln und unsere Ziele erreichen.
Scham erleben
Scham ist zudem eigentlich ein ganz normales Gefühl und jeder Mensch erlebt sie hin und wieder. Welche Situationen jedoch Scham auslösen, ist sehr individuell. Die meisten Schamauslöser erlernen wir durch unsere Erziehung und unser kulturelles sowie gesellschaftliches Umfeld. Aber auch missachtete Bedürfnisse erzeugen Scham. Daher reagieren nicht alle Menschen auf bestimmte Situationen gleich. Für den einen ist etwas zutiefst beschämend, für den anderen hingegen gar kein Problem.
Je häufiger und intensiver wir Schamerfahrungen gemacht haben, desto stärker ist unsere Schambelastung, und umso häufiger können uns Situationen triggern. Im schlimmsten Fall sorgt Scham dafür, dass wir existenzielle Selbstzweifel und Glaubenssätze entwickeln: nicht liebenswert/genug/dazugehörig; oder einfach ganz anders und falsch zu sein. Auslöser dafür können zum Beispiel der Eindruck von Peinlichkeit oder Verlegenheit, aber auch die Bloßstellung oder Beschämung durch andere Menschen in Form von Demütigungen oder Kränkungen sein. Zuviel Scham kann dann vieles in uns auslösen, sie lässt uns erstarren; erzeugt Angst; lässt uns perfektionistisch und selbstzweifelnd werden; wir verlieren unser Selbstvertrauen und entwickeln eine innere Leere. Zuviel Scham wird dann gefährlich, wenn sie unser Handeln im Alltag beeinträchtigt.
Aber auch zu wenig Scham hat für uns und für die Gesellschaft unangenehme Folgen. Als egozentrisch, selbstherrlich, rechthaberisch und empathielos werden diese Menschen empfunden, als unfähig, sich zu entschuldigen und, dass sie zu wenig Verantwortung übernehmen. Sie überschreiten schneller persönliche, gesellschaftliche oder moralische Grenzen und Regeln und werden im Allgemeinen als nicht vertrauenswürdig und unsympathisch wahrgenommen und eher gemieden.
Das Gefühl der Scham tritt oft im Kontakt mit anderen Menschen auf
Wie zeigt sich Scham?
Nach außen hin äußert sich die Scham auf der ganzen Welt gleich: Senken der Augenlider und des Kopfes, Abwenden des Blicks, Bedecken des Gesichts mit den Händen, Erröten oder blass werden. Begleitet vom dringenden Wunsch, „im Erdboden zu versinken“, sich unsichtbar machen zu können oder abwesend zu sein. Herzklopfen, rasender Puls und vermehrtes Schwitzen können zudem auf der körperlichen Ebene auftreten. Scham ist dadurch eindeutig erkennbar, gerade das Erröten enttarnt uns sichtbar für alle. Deshalb schämen wir uns auch für unsere Scham oder ärgern uns über uns selbst. Das sind die Momente, in denen wir uns selbst abwerten und beschimpfen, statt wohlwollend über uns nachzudenken. So verlängern wir den Prozess der Scham, anstatt uns mit positiven Gedanken uns selbst gegenüber wieder aus der Situation zu holen.
Scham als positive Kraft
Scham ist ein existenzielles Gefühl und das einzige Gefühl, das sich nach innen richtet. Mit ihr haben wir nämlich die Möglichkeit der Selbstreflexion. Sie ist die positive Kraft, die uns unterstützt, unsere Glaubenssätze, unsere Grenzen und Handlungen zu erkennen und so unser Verhalten anzupassen und zu regulieren. Sie hilft uns, Negatives zu ändern, Schönes zu genießen und die eigene Unvollkommenheit und Verletzlichkeit anzunehmen.
Zudem fungiert sie als Alarm- und Schutzsignal, wenn unser persönlicher oder intimer Raum verletzt wird. In diesem Fall verschließen wir uns, um keine weiteren negativen Einflüsse mehr in unser System zu lassen. Sie schützt die Grenzen unserer Intimität und die unserer Mitmenschen. Sie ist somit also die Wächterin unserer psychosozialen Integrität.
Unsere natürliche Scham kann sehr unangenehm sein, aber sie ist kein Zeichen von Schwäche oder Fehlerhaftigkeit. Im Gegenteil: Scham ist ein Zeichen von Stärke und Intelligenz. Menschen, die sich schämen können, sind in der Lage, die sozialen Normen und Werte unserer Gesellschaft zu verstehen und zu respektieren. Scham schützt also auch die Gemeinschaft, in der wir leben.
Wenn wir lernen, mit unserer Scham umzugehen, kann sie uns sogar helfen, besser mit anderen Menschen zu interagieren und soziale Beziehungen aufzubauen.
Schamtoleranz – also die Fähigkeit, unsere eigene Scham zu ertragen und die Scham anderer Menschen anzuerkennen – ist eine wichtige Eigenschaft in unserer Gesellschaft.
Über das Gefühl Scham und den gesunden Umgang damit gibt es noch viel mehr zu entdecken, zu lernen und zu reflektieren, als ich hier in diesem Artikel unterbringen konnte. Es lohnt sich, tiefer in dieses existenzielle Gefühl einzusteigen und sich dadurch noch besser zu verstehen. Es ist ein Hinwenden zum eigenen Kern. Mit Wohlwollen und ein wenig Selbstironie fehlgeleitete Scham umzukehren in Selbstakzeptanz, das wünsche ich uns allen.
Was stark macht
Stark macht das Wissen darum, dass…
- auch Scham „nur ein Gefühl“ ist, das grundsätzlich wieder abklingen kann.
- die meisten Emotionen in der höchsten Intensität etwa 15 Minuten anhalten.
- wenn wir uns für unser Schamerleben schämen, wir es wieder neu aktivieren.
- der Mut, Scham offen zu zeigen und somit auch die eigene Verletzlichkeit bzw. Unzulänglichkeit anzuerkennen, helfen kann, sie zu überwinden.
- der achtsame und gesundheitsförderliche Umgang mit uns selbst unser Selbstwertgefühl stärkt.
- die Fähigkeit, Scham empfinden zu können, uns empathisch und mitfühlend und dadurch bei unseren Mitmenschen beliebt macht.
- Humor ein guter Schlüssel ist, um toleranter mit uns selbst umzugehen.
- wir auch mal mutig „Nein“ sagen dürfen. Sich mit empathischer Zuwendung abzugrenzen ist für beide Seiten positiv. Sie gewinnen an Selbstwert und geben Ihrem Gegenüber die Möglichkeit, Ihre Grenzen zu sehen und zu respektieren.
- wir durch Scham die Möglichkeit haben, zu reflektieren und somit auch zur Selbstregulation.
- wir uns professionelle Hilfe holen können, wenn uns unser Schamerleben im Alltag zu sehr beeinträchtigt!
Autorin
Iris Beck
Redakteurin Klösterl-Journal