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Toxische Positivität: Es gibt doch Schlimmeres – oder?

Ich sitze zuhause und klage einer mir nahestehenden Person gerade mein Leid: In der Arbeit lief heute gefühlt alles schief, dann ist auf dem Heimweg die Tasche mit den Einkäufen zerrissen und alles auf den Boden gefallen, daraufhin habe ich den Bus verpasst und am Ende musste eine Freundin unser geplantes Treffen fürs Wochenende absagen. Während ich nun auf ein wenig Verständnis und Trost für meine berechtigterweise schlechte Laune hoffe, bekomme ich folgendes gesagt: „Naja, versuch‘ doch, es positiv zu sehen. Du bist gesund und es gibt viele Menschen, denen es schlechter geht als dir. Es gibt also wirklich Schlimmeres.“ Da sitze ich nun, ungetröstet und unverstanden und mir geht es kein bisschen besser.

So oder so eine ähnliche Situation haben wir wohl alle schon einmal erlebt. Wir schütten anderen unser Herz aus, und alles, was wir zurückbekommen, sind Phrasen, die bestimmt gut gemeint sind, einem in diesem Moment aber nicht wirklich helfen. Dieses Verhalten und diese Sätze werden als „toxisch positiv“ beschrieben, das bedeutet, dass sie sich durch eine ausschließlich positive Einstellung auszeichnen, welche aber nicht mehr im Normalbereich, sondern bereits toxisch, also giftig, ist.

Es kostet oft aber ganz schön Mut, sich einer anderen Person zu öffnen. Wenn das Gegenüber im Gespräch die eigenen Gefühle dann nur mit Phrasen abwinkt, fühlt man sich nicht gesehen, abgewiesen und allein. Es ist daher wichtig, für andere genauso wie für sich selbst, Gefühle nicht zu unterdrücken.

Komplexe Welt

Viele toxisch positive Phrasen suggerieren uns, dass wir eigentlich alles selbst in der Hand haben und wir uns nur ein wenig anstrengen, ein bisschen positiver denken müssen, dann klappt das schon wieder mit dem Glücklichsein. Wir sind ja alle unseres eigenen Glückes Schmied! Die Wahrheit ist jedoch viel komplexer. Natürlich können wir mit Einstellung und Engagement einiges erreichen. Die Welt ist aber vielschichtiger, und auf die allermeisten Dinge haben wir tatsächlich keinen Einfluss. Das ist erst einmal ein sehr beunruhigender Gedanke, denn der Mensch mag überhaupt keinen (gefühlten) Kontrollverlust. Unsere Gehirne sind darauf gepolt, in allem ein Muster zu sehen und Verbindungen und Erklärungen daraus zu ziehen, damit wir uns vor diesen Situationen und unangenehmen Gefühlslagen präventiv „schützen“ können. Nicht selten sind dies aber eher Scheinerklärungen, die uns diese Sicherheit nur suggerieren. Die Phrasen sind wie eine reflexartige Reaktion auf das Unheil mit einer versuchten, positiven Umdeutung, die zum Ziel hat, die Kontrolle wiederzugewinnen: „Du wirst sehen, das wird schon wieder!“ oder „Die Zeit heilt alle Wunden!“.

Stressiges positives Leben

Toxische Positivität ist zudem extrem stressig. Stellen wir uns nur einmal vor, wir würden „Good vibes only“ in unser Leben lassen, wir würden uns nie mehr über einen schlechten Tag beschweren, würden in allem und jedem nur das Positive sehen usw. Natürlich ist das Gedankenspiel etwas auf die Spitze getrieben, aber genau dadurch entlarven sich die Phrasen der Toxischen Positivität auch. Allein die Vorstellung, so zu leben, klingt unfassbar anstrengend und stressig. Sätze wie „Wenn etwas wirklich will, dann klappt es auch“ üben Druck auf uns aus: Denn wenn wir es noch nicht bekommen beziehungsweise erreicht haben, dann wollten wir es wohl nicht stark genug. Am Ende schämen wir uns noch dafür, dass wir einfach einmal einen schlechten Tag haben, dass wir traurig sind, wütend oder ausgelaugt. Kein Mensch kann so existieren.

Es ist inzwischen auch durch Studien erwiesen, dass unterdrückte Gefühle uns sehr schaden und uns krank machen können. Gefühle sind wie ein aufgeblasener Ball, den wir mit aller Kraft versuchen, unter Wasser zu drücken: Immer wieder springt er hoch. Genauso kommen auch unsere Gefühle, die wir wegschieben, immer wieder zurück, klopfen an und bitten um Aufmerksamkeit – bis wir ihnen endlich Raum und Zeit einräumen.

Wie hätte mein Gegenüber in der Ausganssituation also besser reagieren können? Oder, allgemeiner gesagt, wie reagieren wir darauf, wenn unser Gegenüber „unangenehme“ oder „negative“ Gefühle teilen möchte?

Es gibt doch Schlimmeres!

Ja natürlich, das gibt es. Ganz realistisch betrachtet ist unsere Welt voll davon. Das bedeutet aber nicht, dass mein persönliches Leid keinen Platz haben darf. Meine Gefühle sind da: Trauer, Wut, Enttäuschung, Eifersucht, Scham, Einsamkeit, Verärgerung – das sind nur einige, der als „negativ“ empfundenen Gefühle. Sich mit ihnen zu beschäftigen macht meist wenig Spaß. Gefühle sind aber in erster Linie da, um empfunden zu werden. Im nächsten Schritt, wenn wir aus dem Gröbsten raus sind und etwas klarer sehen, können wir sie genauer betrachten und sie für uns bearbeiten. Dafür braucht es ausreichend Raum, Geduld und Reflektion über das aktuelle Gefühlswirrwarr – und manchmal funktioniert dies am besten in einem Gespräch. Die Gefühle mit Floskeln abzuwinken bewirkt nur, dass diese Gefühle unter der dann wieder „schönen“ Oberfläche unverarbeitet weiterbrodeln.

Neue Gesprächskultur

Natürlich kann es auch sein, dass man jemanden mit seinem Leid etwas überrumpelt. Hier hilft es generell, wenn man über etwas klagen oder sein Herz ausschütten möchte, zuerst bei der anderen Person nach deren Kapazitäten zu fragen: „Hey, bei mir lief heute echt viel schief, hast du gerade Luft, mir ein bisschen zuzuhören? Ich bräuchte ein offenes Ohr/Ich bräuchte deinen Rat.“ So weiß das Gegenüber genau, was gerade benötigt wird und hat noch einmal die Möglichkeit zu bewerten, ob die Situation für das Gespräch gerade die richtige ist.

Dabei ist es wichtig, in sich selbst hineinzuhören: Kann ich gerade für diese Person ausreichend da sein? Kann ich die vielleicht belastenden Nachrichten gerade mittragen (vor allem, wenn sie vielleicht bereits seit längerem bestehen oder sehr geballt kommen)? Hier ist es wichtig, auch die eigene Kapazität im Blick zu behalten und falls nötig, Grenzen zu setzen, denn niemand kann endlos empathisch sein. So kann man beispielsweise auch etwas sagen wie: „Du, ich fühle mich gerade leider nicht in der Lage, mich damit wirklich angemessen und ausreichend zu beschäftigen. Können wir vielleicht das Thema wechseln und ein anderes Mal darauf zurückkommen?“ Hat man das Gefühl, dass die andere Person mit den eigenen Gefühlen allein nicht mehr klarkommt, kann man auch professionelle Hilfe hinzuziehen beziehungsweise vorschlagen.

Wir müssen nicht immer glücklich sein

Im Gespräch ist hilfreich, der anderen Person zu zeigen, dass sie – mit all ihren Gefühlen und Problemen – einem wichtig ist und dass man für sie da ist. Anstatt mit einem „Alles passiert aus einem bestimmten Grund, glaub‘ mir!“ das Gespräch abrupt zu beenden, kann man auch fragen: „Was würde dir denn gerade guttun in deiner Situation?“ oder „Was wünscht du dir von deinem Umfeld?“. Genauso wichtig ist es, ehrlich zu bleiben: „Ich kann dir nicht sagen, dass alles wieder gut wird, aber ich begleite dich durch diese Zeit.“ Das zeigt, dass man echtes Interesse am Gegenüber und dessen Ängsten, Niederlagen, Problemen oder Trauer hat, was auf lange Sicht die gemeinsame Verbindung, die man mit der Person hat, intensiviert. Auch uns selbst gegenüber ist es wichtig, Gefühle anzuerkennen und zuzulassen. Denn es ist genauso möglich, dass wir durch die seit der Kindheit verankerten Glaubenssätze, sich selbst gegenüber immer positiv sein zu müssen, in einer Situation völlig berechtigte andere Gefühle unterdrücken und wegschieben.

Gute Beziehungen

Pflegen wir einen gesunden Optimismus, der Situationen realistisch betrachtet und Emotionen nicht verdrängt, sondern annimmt, akzeptiert und bearbeitet. Es ist ein in sich Hineinhören, ein achtsames Abwägen und ein Rücksichtnehmen auf unsere jeweiligen Bedürfnisse und Kapazitäten, was unsere gegenseitige Kommunikation langfristig besser macht. Es hilft uns, unsere komplexen Gefühle zu ordnen, zu verstehen und zu verarbeiten. Das stärkt und vertieft letztlich auch unsere Beziehung zueinander und hilft uns, uns gegenseitig, in unserer gesamten Gefühlsbandbreite, besser wahrzunehmen.

Autorin

Anita Schedler

Redakteurin Klösterl-Journal